Böhmfeld online

"Kunst im Kotterhof 2003"

 

Ausstellung im Kotterhof Böhmfeld
Hofstetter Straße 3

29.6. bis 20.7.2003
 

 

 

Brigitte Menne

Installation > NESTER 2 <


mit KLICK zu den Nestern ...

  Fotos der >NESTER 2<

Aus der Ansprache von Albert Fersch:

Brigitte Menne, geboren in Schwarzach bei Salzburg, besuchte an der Hochschule für Angewandte Kunst die Meisterklasse für Metall , die sie mit Diplom 1970 abschloss und schon 1968 den 1.Preis der Wiener Goldschmiede-Innung erreichte.

1969 und 70 bildete sie sich mit Stipendien des italienischen Staates in der Accademia in Rom fort. 1971 erzielte sie einen Ankauf durch die Republik Österreich.

Als diplomierte Soziologin engagierte sie sich in der Frauenbewegung und verfasste das Buch „Wir Frauen am Land“. Künstlerisch setzte sie ihren Weg fort von 1984-1993 mit Federzeichnungen für Titelblätter des „SAURÜSSEL – Mühlviertler Landbote“.

Seit 2001 arbeitet sie in ihrem eigenen Atelier, aus dem erstmals 2002 in Haslach bei der „Textile Kultur“ ihre >NESTER< entflogen. Aktuelle Arbeiten zeigte sie in Regensburg bei der Ausstellung „Regensburg trifft Salzburg“ mit der „Frau aus der Salzach“. Wir freuen uns, dass wir sie für den Kotterhof gewinnen konnten, wo wir eine überarbeitete Neuauflage ihrer >NESTER 2< bewundern und auf uns wirken lassen dürfen.

 

 

Hintergründiges zu den >Nestern<

  1. Das Nest, die Materialität von Kommunikation

Nest bedeutet eigentlich ni-zd-o (indogerm.) ein Ort, an dem jemand nieder sitzt oder nistet, von ni-sedo (nieder sitzen);
Nest hängt zusammen mit idg. nas: wohnen, aus nah-sta: binden, knüpfen, schnüren und mit ahd. nesan: genesen (=heil davonkommen); genesen entscheidet sich im Augenblick der Gefahr und ist entweder ganz oder sein Gegenteil: du kannst nicht "halb genesen"!

Ein Nest ist warm, weich und widerstandsfähig.

Redensarten:

Offenbare Nester scheuen alle Vögel.

Die Vögel ziehen zu Neste. (Da wird gevögelt.)
Wie's zu Neste geht, also brütet es Junge.

In sein Nest hofieren wie ein Wiedehopf. (Eine Gspusi holen ins eigene Haus)
Sein Nest beschmutzen.

Besser ohne Fest als kein Nest.
Wenigstens ein Fest, wenn schon kein Nest.

Wer lehret die Bürger der Zweige voll Kunst sich Nester zu wölben?  (H. v. Kleist)

Außer Vogelnestern gibt es
Bienen-, Wespen-, Drachen-, Mäuse-, Ratten-, Raupen-, Spinnen-, Wurm-, Hamster-, Eichhörnchen-, Katzen- und Fischnester (z.B. vom Stichling)

Ein Nest ist auch das Lager oder die Wohnung der Menschen.
Hinein ins warme Nest!

Ein Nest ist eine enge, unansehnliche, elende Wohnung, ein Gemach, ein Haus, ein Dorf, eine Kleinstadt: So ein Nest!
Ihr habt ja selbst in dem Nest kaum Platz.
In dem Nest würd' ich's keine Woche aushalten.

Die Nester des Diebs- und Gaunergesindels.
Ein Nest ausnehmen.
Ein Nest ausheben.
Den hat der Teufel im Nest vergessen.

Nesthocker / Nestflüchter
Heraus aus deinem Nest!

Nesthäkchen: Das letzte und zarteste Kind, das gehätschelt wird.
Wie ein Vogerl, das aus dem Nest gefallen ist.
Ein nestwarmes Ei / Nestwärme

Eingesprengtes Gestein (wie Glimmer im Granit) wird auch Nest genannt.

Widerstandsnester / Partisanennester
Todesnester

sh. Grimms Wörterbuch

 

  1. Lesen
    Was die Vögel beim Materialsuchen tun, ist ganz entschieden Lektüre: Sie lesen das Verwebbare, sie sammeln Anknüpfungspunkte.

 

  1. Schreiben
    mhd. schriben, ahd. scriban, entlehnt aus scribere = ritzen, kratzen

Nach dem (Auf- und Aus-) Lesen schreiben die Vögel mit den gefundenen Zeichen - wie Schriftstellerinnen! - einen Text. Anders gesagt: das Textem, das Rohmaterial, und bringen es an einem besonderen Ort in einen Zusammenhang.

Der Zusammenhang, den sie herstellen, ist eine dreidimensionale In-Schrift - wie auch sonst Architektur: "Ich bewahre. Ich schütze. Ich verberge."

Das Tun der Vögel beweist, dass ich zuerst lesen können muss um zu schreiben, wie ich zuerst leben muss um zu atmen und ebenso die Sprache ihr Gesprochenwerden voraussetzt.

Nach DERRIDA erscheint ein metaphorischer Schriftbegriff vor der schriftlichen wie sogar der gesprochenen Sprache vorgängig. Ecriture ist einer seiner Schlüsselbegriffe. Die Schrift wird dabei gegenüber der gesprochenen Sprache aufgewertet und als >Ur-Schrift<, als allen kulturellen und geistigen Tätigkeiten vorgängige Instanz, gesehen.

FOUCAULT schlägt vor, nicht mehr nach inneren und verborgenen Gehalten zu suchen, sondern >äußere Möglichkeitsbedingungen von Diskursen zu rekonstruieren<, um den >Zufall, das Diskontinuierliche und Materialität in die Wurzel des Denkens einzulassen<.

BARTHES plädiert für die theoretische Wiederbelebung des stofflichen und körperlichen Aspekts von Kommunikation.

KITTLER propagiert eine Physiologie von Aufschreibesystemen, die Sprache nicht mehr als intentional bestimmten Transport geistiger Gehalte begreift.

 

  1. Das Nest - eine archetypische (urbildliche, vorbildliche) Schrift

Wie sich ein Nest darstellt, so rund um eine leere Mitte gewölbt, ist damit etwas zur Oberfläche verwoben, was wie eine Schrift die Botschaft eines Grundes ist: Von einem Grund, woher die einzelnen Fasern stammen, legen sich die Zeichen in einem Ringa-Reia um den Grund herum und darüber hinweg. Für etwas, das noch nicht da ist, um eine leere Mitte herum schreiben die Vögel mit ihrem Schnabel eine In-schrift. Von unten her immer um den Grund Kreise ziehend, errichten sie eine kompakte, geschwungene Oberfläche aus einer Vielfalt von Zeichen.

Die Vögel bauen diese Form aus ihrem genetischen Gedächtnis. Die besondere Nestform ist eine überlieferte und über Generationen bewährte Kulturform einer Vogelart. Ein Nest ist also sowohl das Lesedokument eines Individuums als auch das identifizierbare Bauwerk einer Spezies z.B. von Eichelhähern, Rotschwänzchen, Meisen oder von Schleiereulen. Für eine Vogelart und ihre Jungen ist das Nest nicht nur eine schützende Behausung, sondern als Niederschrift auch die zentrale Kulturleistung dieser Spezies.

So lässt ein bestimmtes Nest darauf schließen, welche Vogelart darin nistet: So und nicht anders schauen die Nester der Adler, so und nicht anders schauen die Nester der Nachtigallen aus. Das Nest ist In-schrift gewordene Verbindlichkeit: "Hier lasse ich mich auf etwas ein" und - wie das alteuropäische Wort nizdo lautmalerisch velautbart: "nist do!" - "setz dich nieder!" - ist das Nest eine Verstofflichung (materialisation) von Verabredungen (communication).

Was ich als bewunderten Fundgegenstand fand und nach Hause trug, ein verlassenes Nest, war in diesem Kontext aber noch etwas anderes, was mir viel später bewusst wurde: Ein Nest als bewunderte Kulturtechnik einer Vogelart ist auch eine Komposition aus gelesenen Einzelzeichen, ein Nest ist Beispiel für eine archetypische, animalische Schrift.

 

  1. LITHERATUR - Raum für NICHTS

Ich präsentiere LITHERATUR durch wirkliche (aufgeklaubte) Vogelnester, sprachliche Nester in Redensarten, erfundene und imaginäre Nester. Ich verwandle Räume in Nester und Nester in Räume. Meine Nest-Installationen sind écriture. Vorgängig war das Aufklauben / Sammeln von Zeichen. Ich erinnere an "Les glaneurs et la glaneuse" von Agnes Varda (2000).
Ich bin eine glaneuse, eine Aufklauberin.

Mit >NESTER< plädiere ich für Aufschreibesysteme, die bevorzugt die stofflichen und körperlichen Bedingungen von Kommunikation in den Mittelpunkt stellen: ein Aufhebens machen, also etwas aufnehmen (auf)lesen; (sich) etwas Herausnehmen und dann: es Zusammenlegen und Hinbreiten, sodass andere damit etwas anfangen können:
Lesen, was geschrieben steht: eine Welt.

Ziel meiner Nester-Installationen ist aber nicht stumme Bewunderung. Intention ist vielmehr, dass BetrachterInnen wieder ein Gefühl bekommen für Vergessenes, Urwüchsiges - und im Staunen über diese LITHERATUR - selber (neu) zu sprechen, lesen, schreiben anfangen. Dass angesichts der >NESTER< dies in hohem Maße geschehen kann, wurde im Vorjahr bei meiner Ausstellung in Haslach dokumentiert.

Auch in Böhmfeld wird die Inauguration der >NESTER 2< am 28. Juni von dem furiosen und zugleich hingebungsvollen Akkordeonspieler Alois Reiter aus Perwolfing (Rohrbach) musikalisch begleitet.

 

NICHTS
al-hayrah - eine fortgesetzt kreisende Bewegung um einen Punkt,
der verstandesmäßig nicht vollständig fassbar ist.

 

Brigitte Menne, Linz, im Juni 2003
 
Kontakt:  

 

  Fotos der >NESTER 2<

 

 

 
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Stand: 24. September 2006