Hintergründiges zu den >Nestern<
- Das Nest, die Materialität von Kommunikation
Nest bedeutet eigentlich ni-zd-o (indogerm.)
ein Ort, an dem jemand nieder sitzt oder nistet, von ni-sedo
(nieder sitzen);
Nest hängt zusammen mit idg. nas: wohnen, aus nah-sta:
binden, knüpfen, schnüren und mit ahd. nesan: genesen
(=heil davonkommen); genesen entscheidet sich im Augenblick der Gefahr
und ist entweder ganz oder sein Gegenteil: du kannst nicht "halb
genesen"!
Ein Nest ist warm, weich und widerstandsfähig.
Redensarten:
Offenbare Nester scheuen alle Vögel.
Die Vögel ziehen zu Neste. (Da wird gevögelt.)
Wie's zu Neste geht, also brütet es Junge.
In sein Nest hofieren wie ein Wiedehopf. (Eine
Gspusi holen ins eigene Haus)
Sein Nest beschmutzen.
Besser ohne Fest als kein Nest.
Wenigstens ein Fest, wenn schon kein Nest.
Wer lehret die Bürger der Zweige voll Kunst sich
Nester zu wölben? (H. v. Kleist)
Außer Vogelnestern gibt es
Bienen-, Wespen-, Drachen-, Mäuse-, Ratten-, Raupen-, Spinnen-, Wurm-,
Hamster-, Eichhörnchen-, Katzen- und Fischnester (z.B. vom Stichling)
Ein Nest ist auch das Lager oder die Wohnung der
Menschen.
Hinein ins warme Nest!
Ein Nest ist eine enge, unansehnliche, elende
Wohnung, ein Gemach, ein Haus, ein Dorf, eine Kleinstadt: So ein Nest!
Ihr habt ja selbst in dem Nest kaum Platz.
In dem Nest würd' ich's keine Woche aushalten.
Die Nester des Diebs- und Gaunergesindels.
Ein Nest ausnehmen.
Ein Nest ausheben.
Den hat der Teufel im Nest vergessen.
Nesthocker / Nestflüchter
Heraus aus deinem Nest!
Nesthäkchen: Das letzte und zarteste Kind, das
gehätschelt wird.
Wie ein Vogerl, das aus dem Nest gefallen ist.
Ein nestwarmes Ei / Nestwärme
Eingesprengtes Gestein (wie Glimmer im Granit)
wird auch Nest genannt.
Widerstandsnester / Partisanennester
Todesnester
sh. Grimms Wörterbuch
- Lesen
Was die Vögel beim Materialsuchen tun, ist ganz entschieden Lektüre:
Sie lesen das Verwebbare, sie sammeln Anknüpfungspunkte.
- Schreiben
mhd. schriben, ahd. scriban, entlehnt aus scribere
= ritzen, kratzen
Nach dem (Auf- und Aus-) Lesen schreiben die Vögel
mit den gefundenen Zeichen - wie Schriftstellerinnen! - einen Text.
Anders gesagt: das Textem, das Rohmaterial, und bringen es an einem
besonderen Ort in einen Zusammenhang.
Der Zusammenhang, den sie herstellen, ist eine
dreidimensionale In-Schrift - wie auch sonst Architektur: "Ich bewahre.
Ich schütze. Ich verberge."
Das Tun der Vögel beweist, dass ich zuerst lesen
können muss um zu schreiben, wie ich zuerst leben muss um zu atmen und
ebenso die Sprache ihr Gesprochenwerden voraussetzt.
Nach DERRIDA erscheint ein
metaphorischer Schriftbegriff vor der schriftlichen wie sogar der
gesprochenen Sprache vorgängig. Ecriture ist einer seiner
Schlüsselbegriffe. Die Schrift wird dabei gegenüber der gesprochenen
Sprache aufgewertet und als >Ur-Schrift<, als allen kulturellen und
geistigen Tätigkeiten vorgängige Instanz, gesehen.
FOUCAULT schlägt vor, nicht mehr nach
inneren und verborgenen Gehalten zu suchen, sondern >äußere
Möglichkeitsbedingungen von Diskursen zu rekonstruieren<, um den
>Zufall, das Diskontinuierliche und Materialität in die Wurzel des
Denkens einzulassen<.
BARTHES plädiert für die theoretische
Wiederbelebung des stofflichen und körperlichen Aspekts von
Kommunikation.
KITTLER propagiert eine Physiologie von
Aufschreibesystemen, die Sprache nicht mehr als intentional bestimmten
Transport geistiger Gehalte begreift.
- Das Nest - eine archetypische
(urbildliche, vorbildliche) Schrift
Wie sich ein Nest darstellt, so rund um eine leere
Mitte gewölbt, ist damit etwas zur Oberfläche verwoben, was wie eine
Schrift die Botschaft eines Grundes ist: Von einem Grund, woher die
einzelnen Fasern stammen, legen sich die Zeichen in einem Ringa-Reia um
den Grund herum und darüber hinweg. Für etwas, das noch nicht da ist, um
eine leere Mitte herum schreiben die Vögel mit ihrem Schnabel eine
In-schrift. Von unten her immer um den Grund Kreise ziehend, errichten
sie eine kompakte, geschwungene Oberfläche aus einer Vielfalt von
Zeichen.
Die Vögel bauen diese Form aus ihrem genetischen
Gedächtnis. Die besondere Nestform ist eine überlieferte und über
Generationen bewährte Kulturform einer Vogelart. Ein Nest ist also
sowohl das Lesedokument eines Individuums als auch das identifizierbare
Bauwerk einer Spezies z.B. von Eichelhähern, Rotschwänzchen, Meisen oder
von Schleiereulen. Für eine Vogelart und ihre Jungen ist das Nest nicht
nur eine schützende Behausung, sondern als Niederschrift auch die
zentrale Kulturleistung dieser Spezies.
So lässt ein bestimmtes Nest darauf schließen,
welche Vogelart darin nistet: So und nicht anders schauen die Nester der
Adler, so und nicht anders schauen die Nester der Nachtigallen aus. Das
Nest ist In-schrift gewordene Verbindlichkeit: "Hier lasse ich mich auf
etwas ein" und - wie das alteuropäische Wort nizdo lautmalerisch
velautbart: "nist do!" - "setz dich nieder!" - ist das Nest eine
Verstofflichung (materialisation) von Verabredungen (communication).
Was ich als bewunderten Fundgegenstand fand und
nach Hause trug, ein verlassenes Nest, war in diesem Kontext aber noch
etwas anderes, was mir viel später bewusst wurde: Ein Nest als
bewunderte Kulturtechnik einer Vogelart ist auch eine Komposition aus
gelesenen Einzelzeichen, ein Nest ist Beispiel für eine archetypische,
animalische Schrift.
- LITHERATUR - Raum für NICHTS
Ich präsentiere LITHERATUR durch wirkliche
(aufgeklaubte) Vogelnester, sprachliche Nester in Redensarten, erfundene
und imaginäre Nester. Ich verwandle Räume in Nester und Nester in Räume.
Meine Nest-Installationen sind écriture. Vorgängig war das Aufklauben /
Sammeln von Zeichen. Ich erinnere an "Les glaneurs et la glaneuse" von
Agnes Varda (2000).
Ich bin eine glaneuse, eine Aufklauberin.
Mit >NESTER< plädiere ich für Aufschreibesysteme,
die bevorzugt die stofflichen und körperlichen Bedingungen von
Kommunikation in den Mittelpunkt stellen: ein Aufhebens machen, also
etwas aufnehmen (auf)lesen; (sich) etwas Herausnehmen und dann: es
Zusammenlegen und Hinbreiten, sodass andere damit etwas anfangen können:
Lesen, was geschrieben steht: eine Welt.
Ziel meiner Nester-Installationen ist aber nicht
stumme Bewunderung. Intention ist vielmehr, dass BetrachterInnen wieder
ein Gefühl bekommen für Vergessenes, Urwüchsiges - und im Staunen über
diese LITHERATUR - selber (neu) zu sprechen, lesen, schreiben anfangen.
Dass angesichts der >NESTER< dies in hohem Maße geschehen kann, wurde im
Vorjahr bei meiner Ausstellung in Haslach dokumentiert.
Auch in Böhmfeld wird die Inauguration der >NESTER
2< am 28. Juni von dem furiosen und zugleich hingebungsvollen
Akkordeonspieler Alois Reiter aus Perwolfing (Rohrbach)
musikalisch begleitet.
NICHTS
al-hayrah - eine fortgesetzt kreisende Bewegung um einen Punkt,
der verstandesmäßig nicht vollständig fassbar ist.
Brigitte Menne, Linz, im Juni 2003
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Fotos der >NESTER 2<
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