"Erziehung ist kein Kinderspiel!": Gemeinde Böhmfeld will Eltern
unter die Arme greifen
Professor Dr. Peter Paulig machte mit seinem Vortrag "Kinder
brauchen Wurzeln und Flügel" beim Neujahrsempfang den Anfang
Böhmfeld, 08.01.06 (sdr) "Wir stärken die
Erziehungskompetenz der Eltern" hat sich die Gemeinde Böhmfeld in
ihrem Leitbild "Böhmfeld 2020 - Nachhaltig fit für die Zukunft"
vorgenommen. Exakt dieses Ziel peilt sie im Jahr 2006 an. Den Anfang
machte der bekannte Erziehungswissenschaftler Professor Dr. Peter
Paulig (Ingolstadt) beim Neujahrsempfang im Kotterhof mit seinem
fulminanten Vortrag "Kinder brauchen Wurzeln und Flügel". Das Publikum
war ein Querschnitt aller Personen aus dem Dorf und von auswärts, die
mit der Betreuung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen in
Böhmfeld betraut sind, angefangen vom Kindergarten über die
Grundschule, den kirchlichen Bereich bin hin zu Vereinen und Gruppen
sowie dem gemeindlichen Jugendtreff. Ein stimmungsvolles musikalisches
Rahmenprogramm bot die Böhmfelder Stubenmusik mit Joachim Stadlbauer
(Geige), Andrea Funk (Harfe), Lisa Reichelt (Zither), Rita Stark und
Cornelia Schünke (Hackbrett), Resi und Ulrike Nieberle (Gitarre),
Marion Netter (Querflöte) sowie Gerhard Schiesterl (Bassgeige).
"Keine üblichen Rituale und keine Sonntagsrede fürs Poesiealbum"
wollte Bürgermeister Alfred Ostermeier. präsentieren und steuerte nach
kurzem Rück- und Ausblick in die Kommunalpolitik das Hauptthema an:
"Wir dürfen die Augen nicht verschließen, Erziehung war noch nie ein
Kinderspiel." Trotzdem habe sich einiges geändert. Habe es früher in
einer Schulklasse ein bis zwei "schwierige" Kinder gegeben, seien es
heute fünf bis sechs, stellte der Gymnasiallehrer Ostermeier fest.
Aggressivität und Gewaltbereitschaft seien ebenso auf dem Vormarsch
wie Gleichgültigkeit und Kapitulation seitens der Eltern. Gründe dafür
seien unter anderem die zunehmende Komplexität des Alltags und die
daraus resultierende Unsicherheit von Erziehungsberechtigten, wie gute
Erziehung auszusehen habe. Trotzdem seien sowohl Schreckensszenarien
als auch eine Katastrophenstimmung fehl am Platze.
"Erziehung von Kindern ist eigentlich nicht Sache der Gemeinde,
sondern laut Grundgesetz die vordringlichste Pflicht der Eltern,
fortgeführt im Kindergarten und in der Schule", betonte der
Bürgermeister. Deshalb müsse auch niemand befürchten, dass er sich als
Zuchtmeister aufspielen und den pädagogischen Zeigefinger erheben
wolle. Vielmehr möchte man Informationen zur Verfügung stellen und
eventuell die eine oder andere "Initialzündung" auslösen, sagte
Ostermeier. Die perfekte Erziehung gebe es nicht. "Aber es gibt das
Wissen darüber, welche Erziehungsformen am ehesten dazu beitragen, die
Kinder zu selbstbewussten, leistungsbereiten und gemeinschaftsfähigen
Menschen zu erziehen", konstatierte der Bürgermeister.
Gemäß der Devise "Wir sind schon gut, aber wir können noch besser
werden!" biete die Gemeinde ab März 2006 für maximal 12
Erziehungsberechtigte von Kindergarten- und Grundschulkindern ein von
einer Sozialpädagogin geleitetes Seminar mit dem Motto "Starke Eltern
- starke Kinder" an. Einige Plätze seien noch frei, gab der
Gemeindechef zu verstehen.
"So schön war's noch nie bei einem Neujahrsempfang!" war Professor Dr.
Peter Paulig begeistert von der heiter gelösten Atmosphäre im
Sitzungssaal des Kotterhofs. Trotzdem sei die Thematik seines
Referates ernst, fügte er gleich hinzu.
"Wenn Kinder klein sind, brauchen sie tiefe, verzweigte Wurzeln, die
sie auch 'Stürme' überstehen lassen. Wenn sie groß sind, muss man
ihnen Flügel geben", machte der Erziehungsexperte, Vater von sechs
Kindern und Großvater von 15 Enkelkindern, deutlich. Erziehung sei
"gelebtes Vorbild", besonders in den ersten Jahren. Jedes Kind sei ab
seiner Zeugung in all seinen Einzelheiten einmalig, hineingeboren in
eine neue Zeit. Dies gelte auch für eineiige Zwillinge. Der
abgegriffene Spruch "Was früher geholfen hat, kann auch heutzutage
nicht schaden" habe deshalb keine Berechtigung.
Wichtig seien eine intakte Familie, Zeit für das Kind, feste Rituale
als "Humus" für "schönste Familiengeschichten", Ehrlichkeit,
uneingeschränkte Liebe zum Kind in allen Lebenslagen, Zuwendung,
Beachtung und Anerkennung, das Ziehen von Grenzen ohne jegliche
körperliche und seelische Gewalt und der Freilauf zum späteren
"Fliegen lernen", zählte der Erziehungsfachmann in neun Grundsätzen
auf. Eltern, die ihren Kindern Vertrauen schenkten, stärkten deren
Selbstvertrauen. Liebesentzug mache Kinder unerziehbar. Wem die Hand
ausrutsche, beweise Inkompetenz und erzeuge Gewaltbereitschaft.
Selbstverständlich sei Erziehung "Privatsache", aber Erziehung allein
"aus dem Bauch heraus" sei - wie "Bus Fahren ohne Fahrkenntnis" - zum
Scheitern verurteilt. Deswegen und weil Kindererziehung keineswegs ein
"Friede-Freude-Eierkuchen-Spiel" sei, sei vorsorgende Prävention mit
Hilfsangeboten zur Stärkung der Erziehungskompetenz besser als
nachträgliche Therapie, hob Professor Paulig hervor. Mit "Die Kinder
müssen die Dummheit ihrer Erzieher so lange ertragen, bis sie groß
genug sind, sie zu wiederholen" zitierte er einen erfahrenen
Fachkollegen.
Dass Erziehungsschwierigkeiten nicht neu sind, zeigt die Chronologie:
Bereits vor über 100 Jahren, so der Professor, habe eine schwedische
Erziehungswissenschaftlerin das Buch "Wir müssen den Eltern bei der
Erziehung helfen!" veröffentlicht. Auch im Familienbericht der
Bundesregierung von 1964 stand, dass "viele Eltern verunsichert und
überfordert sind und dringend Hilfe brauchen". 1976 sprach der
damalige Kultusminister von Nordrhein-Westfalen, Johannes Rau, gar von
einem "Erziehungsnotstand". Von 1988 bis 2004 ist die
Gewaltbereitschaft bei den Jugendlichen um 128 Prozent gestiegen. Bis
1960 rangierten die Werte "Gehorsam" und "Fleiß" an erster Stelle,
heute ist es die "Selbstständigkeit". "Gehorsam" ist auf den letzten
Platz abgerutscht. 47 Prozent der heutigen Eltern empfinden die
Erziehung ihrer Kinder als "unangenehm und anstrengend".
"Toll" fand es Professor Paulig, dass in Böhmfeld "Ehrlichkeit",
gefolgt von "Familienbindung" und "Hilfsbereitschaft", bei der
Werteumfrage des Bürgermeisters anlässlich des Neujahrsempfang an die
erste Stelle rückte.
Als Ehrengast und allseits bewunderter Gastredner durfte er sich im
Goldenen Buch der Gemeinde Böhmfeld verewigen und die Dorfchronik "Im
Steinacker Gottes" des früheren Pfarrers und Ehrenbürgers Franz Federl
mit nach Hause nehmen.
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Zwei Pädagogen auf einer Schiene: Herzliche Gesten wie die
Überreichung des Abschiedsgeschenkes durch Bürgermeister Alfred
Ostermeier prägten den Besuch von Professor Dr. Peter Paulig
(links) in Böhmfeld. |
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